Retroperspektive
Hörte ihn schon draußen am Gang reden, mit dem Pfleger hatte ich schon 2012 so meine Anpassungsschwierigkeiten. "Guten Morgen, Morgenstund hat Gold im Mund", brüllte er mit seiner sympathischen Stimme in das weite Rund unseres bisher noch so friedvollen Zimmers. Zurückhaltend, da ich mich nicht gleich so früh von meiner besten Seite zeigen wollte, ersparte ich ihm das Zitat von "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold"....
Oberarzt-Visite war auch schon da und ich werde nun definitiv am Samstag entlassen - Begründung: Am Wochenende wäre kein Hausarzt greifbar.....lasse ich einfach mal so im Raum stehen. Eigentlich schade, hätte sonst am Freitag Abend für fünf Minuten am Klassentreffen im "Ställe" vorbeigeschaut. Dieses Mal wäre es etwas ganz besonderes gewesen: Bisher war ich immer unter den letzten Heimkehrern, doch dafür würde momentan meine Wunde noch zu sehr schmerzen - kann noch nicht allzu lange sitzen oder gehen.
Dann steige ich mal beim gestrigen Tag, gegen 14.40 Uhr, ein. Frau Dr. Guthoff kam ins Zimmer, um irgendwas mit meinem Nachbarn abzuklären. Sie sagte am Morgen schon, dass es für alle heute streßig werden würde (Streik) und deshalb nur das Notwendigste erledigt werden könne. Traute mich aber trotzdem nach meinem AFP-Wert zu fragen und sie sagte, dass die Ergebnisse schon da sein müßten und sie später nochmal vorbeikommt. 14.55 Uhr öffnete sich dann die Türe und sie drückte mir nur mit dem Satz "Schauen Sie mal die 17 an" den Zettel in die Hand. Ich kämpfte mich durch die ganzen Zahlen und sie ging schon langsam Richtung Ausgang - beobachtete mich aber grinsend. Als ich dann nun die Sparte mit dem AFP-Wert und der 17 entdeckte, schaute ich sie ganz entgeistert und mit nassen Augen an. Sie stand schon im Türrahmen und lächelte mir noch zu, ließ mich dann meinen "Inneren Reichsparteitag" verarbeiten (wird bei Wikipedia u.a. mit dem Satz: Gefühl tiefster Befriedigung/Genugtuung beschrieben - nur als Anmerkung für alle Moralprediger).
Wie soll ich diese Minuten in Worte fassen? Denke es ist vergleichbar, wie wenn jemand aus heiterem Himmel eine Hiobsbotschaft erhält, die ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Ich war darauf in keinster Weise vorbereitet, habe auch niemals mit solch einem Ergebnis gerechnet. Ich lag im Bett und mir liefen die Tränen übers Gesicht - übrigens geht es mir gerade beim Schreiben auch so. Würde ich im RTL-Format "Die zehn emotionalsten Momente" über den Bildschirm flackern, so wäre dies meine persönliche absolute Nummer 1!!!!
Bei der Chemo und der OP 2012, nach den drei Stammzelltransplantationen 2013, nach der schwierigen Colitis 2013, hatte ich nie dieses Gefühl wie jetzt nach 14.55 Uhr. Bisher war für mich alles immer so beiläufig, ich dachte auch nie: "Yeeeeeah, jetzt haste es geschafft!" Ich war immer sehr zurückhaltend, auch wenn sich die jeweiligen Ergebnisse positiv darstellten. Dieses Mal ist es ganz anders, ich zweifle nicht mehr an einer möglichen Heilung. Die letzten Monate lag ich mit meinen Gefühlen immer richtig, hoffe nun auch.
Natürlich kann sich jederzeit wieder etwas bilden, blauäugig war ich noch nie und werde es auch nie werden. Ich bin durch und durch ein schonungsloser Realist - mir, aber auch allen anderen gegenüber.
Vor lauter Freude über diese so positive Wendung, gönnte ich meinem lahmen Darm ein Zäpfchen. Es wirkte auch sehr schnell und ich machte mich mit Handy - man weiß ja nie wie lange sowas dauert - auf den Weg in Richtung Sanitärabteilung. Gerade jetzt fing es an zu klingeln, eine Nummer aus dem Raum Leverkusen, welche mich schon am Dienstag anrief, hatte da aber mein Handy lautlos. Ein Mann meldete sich und fragte: ob er denn störe? Wahrheitsgemäß antwortete ich mit einem zögerlichen "nein" und er stellte sich kurz vor und weshalb er mich anriefe - dachte am Anfang, er will mir irgendein Abo aufs Auge drücken. Er wäre von der Verlagsgesellschaft GFMK und sie wären auf meine Homepage aufmerksam geworden. Gerne würden sie meine Internetseite in ihrem Ratgeber "Befund Krebs"
darstellen. Selbstverständlich bin ich damit einverstanden, auch wenn ich erst mal ziemlich baff war. Diese Zeitschrift ist für Kranke und Angehörige gedacht und es gibt dazu auch ein sehr interessantes Internetportal.
Die Geburt meiner Homepage war auf der Isolierstation hier in Ulm, als ich mit Windpocken weggesperrt wurde. Elke war sozusagen die Hebamme, welche mein Baby zur Welt bringen musste. Sie schuf den Torso, dem ich dann mit meinen Gedanken und Erlebnissen das Leben einhauchte.
Der grosse Erzähler, der grosse Schreiber war ich bisher noch nie, wie die Zeiten sich ändern. Vielleicht geht es nur mir so, oder liegt es in der Natur eines jeden Menschen: Ich hatte immer den Drang, etwas einzigartiges zu schaffen. Etwas, dass mir keiner nehmen kann, auf das ich zufrieden zurückblicken kann. Diesen "Traum" habe ich mir mit dieser Homepage verwirklicht. Ich schreibe in erster Linie für mich, schreibe was ich denke und fühle, richte mich nicht nach dem Zeitgeist. In all diesen Zeilen steckt meine Persönlichkeit, mein Charakter, mein Leben - ich bin kein Pseudonym. Wenn ich durch meine Sätze zum Lachen, Weinen, Nachdenken, Verständnis angeregt habe, so habe ich mein Ziel erreicht - dies wollte ich mit meiner Hompage erreichen. Ein weiterer Grund war ganz egozentrisch, ich wollte nicht immer dasselbe erzählen müssen, wollte nicht immer Grundsätzliches erklären. Ich wollte aber auch Barrieren verhindern, Berührungsängste schon im Keim ersticken - DU kannst mit mir über alles sprechen, ICH habe kein Tabuthema, aber kommst DU auch mit den Antworten klar?
Achja, eine kleine Anekdote bezüglich Frage und Antworten, bzw. Feststellungen:
Kam doch gestern Abend die kleine, süße Praktikantin zum Blutdruck messen. Bei mir zeigte das Display beim Puls "89" an, ist für mich ein super Wert - bei den Chemos und nach der OP war er immer so um die 120 bis 130.
Sie: "Da müssen sie aber aufpassen, das ist gefährlich! "
Ich: "Was denn?"
Sie: "Na Ihr hoher Puls!"
Ich: "Nein, der ist super, das passt schon."
Sie: "Der ist viel zu hoch, das ist ein Gesundheitsrisiko!"
Ich: "Machen Sie sich darüber keine Sorgen, ich sterbe wohl eher an Krebs, als an nem zu hohen Puls!"
Ja ok, war für ne unter 20jährige vielleicht ein bißchen zuviel Info - aber ich habe ihren Gesichtsausdruck noch in bester Erinnerung ;-).