Der Tag vor Ulm - nervenzehrend
Morgen wird sich zum ersten Mal alles entscheiden: Chemo oder nicht. Dieses Prozedere wird mich dann eine Weile begleiten, das Damoklesschwert schwingt sehr knapp über mir. Ob ich Angst vor dem Ergebnis habe? Ja, das habe - eigentlich kenne ich das Gefühl nicht, mir war ab und zu flau vor ner Untersuchung, aber jetzt ist es anders. Diesmal steht so viel für mich auf dem Spiel: alles Geplante für die nächsten Monate, die Ausflüge, das Treffen mit lauter netten Freunden (habe übrigens noch viel
Zeit ;-), Geburtstagsfeier meiner Mutter (1998 läßt grüßen), evtl. Toskana (na, Mona?), Reha in Boltenhagen, Bundesliga, Schwarzwald,....dies alles wird in sich zusammenfallen, wenn es morgen heißt: der AFP-Wert ist gestiegen.
Aber weshalb habe ich trotz dieses Risikos, diese ganzen Planungen getätigt, ganz einfach: weil es mir Spaß macht, weil es mir gut tut! Will diese Vorfreude spüren, meinem Leben selber die Richtung vorgeben, frei sein!
Ich lebe in der Krankheit einen ganz anderen Rhythmus. Sonst in die tägliche Arbeit eingebunden, schnell noch einkaufen, Haushalt machen....dies alles ist weit weg von mir. Suche nach schönen Momenten und Erlebnissen, schaffe mir Erinnerungen, ein "Polster" mit sehr viel Positivem. Entdecke Seiten an mir, die mir bisher fremd waren, die ich nicht kannte, lerne also auch viel über mich hinzu.
Niemals hätte ich mir noch vor einem Jahr vorstellen können, dieses Tagebuch zu schreiben. Ich habe alles alleine mit mir ausgemacht, war vollkommen selbständig und habe dies auch sehr vehement verteidigt. Diese Selbständigkeit wurde mir durch meine Hilflosigkeit während/nach der Chermo genommen, konnte mir Zuhause nicht mal selber einen Tee kochen, geschweige denn einkaufen/Auto fahren. Ich weiß nicht wie es ohne meine Mutter und Schwester gewesen wäre. Was machen solche Junggesellen wie ich, die keine Familie haben - will es mir gar nicht vorstellen....da bekomme ich auf einmal "Angst" vorm Altern.....
Es ist für mich aber immer noch eine sehr schwierige, persönliche Gratwanderung: In den Zeiten, in denen ich auf Hilfe von "außen" angewiesen bin, bekomme ich diese mit vollem Einsatz. In den Zeiten, in denen es mir gut geht, nervt es mich sehr schnell, wenn ich zu sehr "belagert" werde. Mir ist bewußt, dass dies die falsche Reaktion von mir ist. Mir ist bewußt, dass ich dadurch verletze und Unverständnis erzeuge. Seid Euch aber bewußt, dass ich daran arbeite und mit mir selber kämpfe, um meine "Rustikalität" ein wenig einzudämmen.
Nun stehe ich da und alles entscheidet sich durch ein paar ml Blut. Muss ich durch die Therapie mit all ihren Risiken und enormen Belastungen? Darf ich hoffen, bei den ca. 70% Überlebenden zu sein, die wenigstens die Therapie erfolgreich hinter sich bringen - wir sprechen hier nicht über die Überlebensquote nach fünf oder zehn Jahren, hier wird schon nach wenigen Monaten das erste Mal "abgerechnet".
Alleine die Vorstellung, für ca. einen Monat im Krankenhaus zu sein, läßt mich verstummen und dies würde mich dann insgesamt dreimal erwarten. In dieser Zeit darf ich die Schleusenstation nicht verlassen, sollte dann noch mein Immunsystem zusammenbrechen, dann wirds auch eng mit Besuchen. Es ist fast unbeschreiblich was in dieser Zeit mit einem passiert, wie man sich fühlt - hoffe dies nicht im Tagebuch niederschreiben zu müssen. Chemobeutel, Zytostatika, die einem durch die Adern laufen, Übelkeit, Abgeschlagenheit, offene Schleimhäute, Lethargie, dahinsiechen (anders kann man diesen Zustand nicht treffender beschreiben)....schau'n mer mal.
Ja, schau'n mer mal, zum Beispiel: nach nem neuen Fahrrad, hoffe Köder hat was passendes, bequemes für mich. Will ein City-Bike ohne viel Schnickschnack, mit tiefem Einstieg, Einkaufskorb, ein Fahrrad zum gemütlichen Fahren und einkaufen - und um in den Biergarten zu fahren, wie war das mit der "Radler"-Tour?
Update: Fahrrad im Schneesturm Probe gefahren, wird jetzt noch technisch überprüft und am Donnerstag hole ich es ab - 120 € reduziert, da es ein Vorjahresmodell ist (wen stört's: ich bin von 1977).
Heute Abend geht's mit Matthias noch zum Abendessen nach Schlat. Gehört zu einem meiner liebsten Hobbys: Wirtschaftskunde, Restaurants auszuprobieren und dabei mit viel Glück ein Juwel zu entdecken - keine Sorge Mama, wir gehen nächste Woche zusammen in den Hirsch, Sartenas` Gutschein will auch mal auf den Kopf gehauen werden.
Wobei, am wohlsten fühle ich mich immer noch auf den "Golanhöhen" in Süßen - da müsst Ihr unbedingt bei schönem Wetter in den Biergarten (unterhalb des Staufenecks, Fa. Strassacker links liegen lassen und dann den Buckel rauf - Uwe S., da müssen wir jetzt endlich mal zusammen hin). Man sieht dort, je nach Wetterlage, bis fast nach Stuttgart. Sitzt sehr gemütlich im Freien, hat eine himmlische Ruhe und wie schon gesagt, eine grandiose Aussicht.
Auch wenn mich jetzt die Gesundheitsfanatiker verdammen: Ich finde es herrlich, dort oben in der Sonne zu sitzen, ein dunkles Hefeweizen/Rosèschorle, vor mir und dann eine leckere Pfeife zu rauchen (bzw. zu paffen). Ich bin kein Lungenraucher, sondern nur gelegentlicher Genußqualmer, dies aber seit Juli 2012 auch nicht mehr. Nicht weil ich Krebs habe, das wäre mir ehrlich gesagt scheißegal, den hatte ich auch schon 1998 ohne Pfeife. Sondern nur weil es mir nicht so gut geht, um es genießen zu können. Weil ich darauf, im Moment, einfach keinen Appetit habe.
Genießen zu können, durchatmen, "frei" sein....da sind wir wieder beim morgigen Dienstag, bei meinem AFP-Wert. Geduldig wartend, nicht wissend, wohin die Reise geht. Bei einer Chemo wäre dieses Jahr für mich vorbei. Da geht es dann nur noch um Therapie und hoffen, dass sie anschlägt. Es geht nur darum, in den Zeiten nach der Therapie, keinen Infekt zu bekommen und deshalb relativ isoliert leben zu müssen - evtl. eine Anschlussheilbehandlung (AHB) für Stammzelltransplantierte zu bekommen. Nicht arg viel mehr, aber es kann auch schnell weniger werden und sich alles nur im Krankenhaus abspielen.
Geduld haben und morgen auf Dich warten, AFP-Wert. Ich bin von Dir abhängig, nur Du entscheidest wie es mir gehen darf. Du bist ein Teil von mir, jedoch interessiert es Dich nicht wie es mir geht. Du bist entartet und Du wirst es nicht überleben - wappne Dich, denn ich bin leidensfähiger als Du. Solltest Du stolz ansteigen, dann werde ich meine geplanten Ausflüge, Treffen nicht absagen, sie werden nachgeholt - dann aber ohne Dich! Ich "sehe" Dich morgen, eine Woche hattest Du nun Zeit, wie fällt die Entscheidung aus?