Karfreitag, Tag 5 vor dem Krankenhaus
Ich muß doch ein wenig, über mich selbst erstaunt, lächeln: schreibe ich hier noch ein Tagebuch, einen Ratgeber, meine Lebensgeschichte? Es vermischt sich irgendwie alles. Sitze vorm PC/Tablet und schreibe einfach drauf los. Welche Worte ich hier auf den Bildschirm bringe, ist mir völlig egal, mache mir keine Gedanken darüber.
Liegt es an der vielen Zeit, die ich gedanklich mit mir alleine war, Worte die deshalb nun einfach nur so "sprudeln"? In den Zeiten der Therapie, in den Zeiten zuhause, ich hatte sehr viel Zeit und sehr wenig geistigen Anspruch. Zum Glück komme ich mit mir alleine klar, habe keine Probleme mit mir.
Nochmals zurück auf den fehlenden geistigen Anspruch, dies wird Euch jeder Chemopatient bestätigen. Etwas zu lesen, sich auf einen Film zu konzentrieren, Radio zu hören, längere Gespräche zu führen....dies ist fast unmöglich. Man hat einfach kein Interesse daran oder ist sehr schnell überfordert. Dies führt(e) bei mir dann auch äußerst schnell zu Gereiztheit und Unzufriedenheit. Viele Fragen, die einem gestellt werden, seien sie auch noch so gut gemeint, können einen sehr barsch reagieren lassen. Deshalb die Bitte an alle Angehörigen, Bekannten und Freunde eines Chemopatienten, der gerade am Beutel hängt: Nehmt es nicht persönlich, es ist nicht gegen euch gerichtet. Wir sind mit dieser Situation auch überfordert und versuchen, irgendwie den Tag rumzukriegen. Man hofft morgens schon auf den Abend, um sich eine Schlaftablette reichen zu lassen, um dann wenigstens ein paar Stunden "frei" zu sein. Versteckt Euch deswegen aber auch nicht, geht mit uns um, wie mit jedem anderen, wir sind nicht behindert! Aber nehmt es bitte nicht persönlich, wenn wir eine für euch befremdliche, verletzliche Reaktion an den Tag legen, wir sind in diesen Momenten nicht fähig zu reflektieren.
Radio hören, Fernsehen, Musik hören, dies alles geht nur sehr bedingt - nicht nur wegen der fehlenden Konzentrationsfähigkeit - ich darf während einiger Infusionen keine Kopfhörer aufsetzen, da diese Beschallung mein Gehör schädigen würde (z.B. bei Cisplatin). Lesen geht überhaupt nicht, selbst Bilder der "Gala" anzuschauen ist zuviel. Die tägliche Post, die mir ins Krankenhaus gebracht wird, überfliege ich nur kurz und teile nach Altpapier oder Aufheben ein - Papier ist geduldig, wenn ich es schon nicht bin.
Gerne vergleiche ich den Zustand eines Chemo-Patienten mit dem eines Depressiven: Du liegst eigentlich nur im Bett, schaust Löcher in die Luft und bekommst nichts auf die Reihe. Du überlegst dir sogar, wann du aufs Klo gehst, da dir dies schon zu viel an Bewegung bzw. Aufgabe ist.
Du hast keinerlei Anreize irgendetwas zu tun. Die einzigste Aufgabe, die dich den Tag über beschäftigt, ist das Beobachten der Infusionen, dem Pflegepersonal klingeln, sobald der Infusomat pfeift. Dreimal am Tag Fieber messen, zweimal den Puls und den Blutdruck kontrolliert zu bekommen. Vor dem Frühstück und gegen 16 Uhr auf die Waage stehen, damit man sieht, ob sich evtl. zu viel Wasser eingelagert hat (ich erinnere an die täglichen fünf Liter Infusionen). Sollte dies so sein, bekommt man nen "Anschubser" für die Nieren, danach kann man wenigstens wieder pinkeln gehen - ist gefühlsmäßig wie nach drei Maß Bier....dreimal am Tag die Zähne zu putzen, danach im Abstand von jeweils zehn Minuten drei verschiedene Mundspülungen zu nehmen (soll gegen die viel gefürchteten Schleimhautentzündungen helfen).
Noch eine kleine Anekdote zur Lethargie eines Chemopatienten: Meine Mutter hat im Flur der Schleusenstation anfänglich noch freundlich meine Mitpatienten begrüßt. Die Ernüchterung kam schnell und sie sagte mir, dass alle so unfreundlich wären und nicht zurück grüßten. Auf einmal war ich aber einer derjenigen, der apathisch durch die Gänge schlich und von nichts Kenntnis nahm, dem alles egal war, der in seiner Welt vegetierte.
Die fast tägliche Blutentnahme ist kaum erwähnenswert, da diese über den Port durchgeführt wird - sofern er rückläufig ist: in den Port laufen normalerweise Infusionen in die Blutbahn. Viele Ports sind aber auch rückläufig und man kann über sie Blut abnehmen. Einfach die Infusionen anhalten, Spritze mit der Portnadel verbinden und schon müßte es klappen - naja, am Dienstag ging es das erste Mal schief, die Sau.....
Karfreitag, jetzt geht es zum Fischessen zu Muttern.
Nun schreibe ich seit über drei Wochen an dieser Homepage, am Tagebuch seit fast zwei Wochen. Rückblickend auf das Geschriebene, bin ich selber sehr überrascht, was alles in dieser Zeit geschah. Wie vielschichtig kann doch das Leben sein. Pläne ändern sich innerhalb eines Telefonats. Ziele müssen neu gesteckt werden. Vorfreude wird im Keim erstickt. Was nun? Jammernd in der Ecke sitzen und mit der Welt hadern? Könnte eventuell eine Variante sein - nur wo führt diese hin?
Man kann noch so viel Hilfe von außen haben. Man kann noch so viel Unterstützung angeboten bekommen. Man kann noch so viele Durchhalteparolen hören. Schlußendlich bin ich mit dieser Krankheit immer alleine.
Mein Umfeld kann mir ein stabiles Gerüst erbauen, mich versuchen abzusichern. Nehmen wir mal an, das Gerüst hat zehn Stockwerke. Ich sitze ganz oben, jammernd in der Ecke und traue mich nicht das Gerüst zu betreten. Ganz unten warten meine Familie, meine Freunde, mein Leben. Sie können nicht hoch zu mir, der einzigste Weg führt von diesem Gerüst runter zu ihnen. Wenn ich mich nun nicht traue, diesen Weg zu beschreiten und lieber jammere und mich verkrieche, was geschieht dann mit mir? Ihr könnt nicht für mich laufen. Ihr könnt mich zu nichts zwingen. Ihr könnt mich aber, nach einem schwierigen Abstieg, mit offenen Armen empfangen. Stehend auf einem sicheren, festen Boden - das Gerüst hat geschwankt, das Fundament blieb unerschütterlich.